[gekürzt aus meinem Gedächtnisprotokoll, da ich bestimmt geschwafelt habe]
„Ich bin Lucia und ich lese gerade John Irvings Owen Meany, ich bin noch ziemlich am Anfang des Romans und weiß noch nicht so genau, was da alles passieren wird. Mein Vater hatte mir das Buch empfohlen, ich weiß, dass er sehr begeistert davon war. John Irving hat er mir, glaub’ ich, auch schon öfters empfohlen, auf jeden Fall habe ich mir das Buch von ihm ausgeliehen und jetzt, etwa 10 Jahre später, komme ich mal dazu, es anzufangen. Ich bin gespannt.“ Ich nicke meinen Kopf und richte meinen Blick leicht nach links. Die Person neben mir liest gerade Die Insel der Tausend Leuchttürme von Walter Moers. Anscheinend wird in dem Buch die Geschichte nur durch Briefe erzählt, ich nehme mir vor, das zu Hause nochmal nachzugucken. Walter Moers wollte ich doch sowieso schon immer mal lesen. Nach Moers geht das metaphorische Redezepter an die nächste Person weiter. Und weiter und weiter, bis alle einmal dran waren. Manche erzählen heute etwas mehr. Reden über den Inhalt ihres Buches, ob es sich leicht oder schwer lesen lässt, ob von dem/der Autor:in schon etwas gelesen wurde, ob man das Buch gerade eben erst auf dem „Empfehlungs-Bücher-Tisch“ entdeckt hat und jetzt blind drauflos lesen möchte. Andere halten sich kurz: Titel – Autor:in.
Ich habe dieses Mal noch keines der Bücher aus der Runde selbst gelesen. Von vielen Titeln habe ich noch nie etwas gehört, von vielen Autor:innen habe ich noch nie etwas gehört. Den Martin Suter-Titel meines Stuhlkreises habe ich bislang nur auf meiner „noch zu kaufen/würde ich mir schenken lassen“-Liste stehen. Die kurze Erzählung dazu klingt gut, vielleicht rutscht der Roman jetzt doch etwas höher auf der „nzk/wimsl“-Liste.
Nach der Redezeit (und dem Bücherstapel-Foto) geht es los. Ich bleibe in dem Stuhlkreis sitzen, suche mir keine andere Sitzgelegenheit irgendwo auf den 5 Etagen der Stadtbibliothek, schlage Owen Meany auf und lasse die Umgebungsgeräusche wegfallen. Die nächste Stunde wird gelesen.

Manchmal fällt mir das Bücherlesen schwer. Manchmal „lese ich gerade“ ein Buch und es vergehen Wochen und die Seiten werden irgendwie nicht weniger. Da lese und lese ich, aber komme einfach kein Stück voran, da ist immer noch so viel Buch von der Geschichte übrig. Das Buch vor Owen Meany ließ sich um einiges leichter in der Hand halten, nur etwa 200 statt 800 Seiten hab ich wochenlang mit mir mitgeschleppt und doch sind die Seiten wochenlang nicht weniger geworden. Trotz meiner Lesehilfe, den 20 Minuten Bahnfahrtsarbeitsweg früh am Morgen, war der Wille nicht da, die Müdigkeit mit ein paar Seiten wegzulesen.
Meine Leseversuche fruchteten nicht, ich bemerkte: Ich nehme mir keine Zeit in die Geschichte einzutauchen, da war keine Motivation, auch nur ein paar Seiten anzulesen. Das muss nicht am Buch liegen, meistens liegt es einfach an mir. Wenn ich nicht vorankomme, dann hatte ich da noch nicht meinen Lesemoment. Diesen Moment, an dem ich den Fortschritt der Geschichte brauche, an dem es einfach weitergehen muss. Der Moment, an dem ich, nach dem Zuklappen des Buches, mir überlege, wann ich denn wieder Zeit habe, es erneut zu öffnen. Pläne mache, um Schlaf gegen Lesen einzutauschen.
Bei meinem letzten Buch, Bei aller Liebe von Jane Campbell, kam die Erlösung in Form einer 5 Stunden Zugfahrt (danke für die Streckensperrung DB). Ich nahm das Buch zur Hand, bewaffnet mit Musik auf meinen Ohren und einem nicht allzu schlechten Sitzplatz, und es dauerte etwa 30 Minuten: Ich erreichte meinen Lesemoment. Auf einmal konnte ich die Seiten nicht schnell genug umblättern, ich musste wissen, wie Josephine auf das Geheimnis ihres Onkels reagieren wird, der ihr jahrzehntelang verheimlichte, dass ihr verstorbener Vater gar nicht ihr leiblicher Vater war. Ihr leiblicher Vater ist der Therapeut, der sie, zufälligerweise, vor fünf Jahren therapierte und der, in diesem Moment, verwurschtelt über drei Ecken, ebenfalls auf der Hochzeit ihrer Tochter eingeladen war. Wochenlang war ich neugierig auf das Ereignis, aber jetzt hier im Zug war es auf einmal ein Verlangen und ich musste wissen, was als Nächstes passiert.
10 Minuten hatten mir morgens immer gefehlt, 10 Minuten mehr Bahnfahrt und ich hätte die etwa 200 Seiten nicht in 5 Wochen, sondern vielleicht in zwei Wochen oder zwei Tagen geschafft. 10 Minuten mehr und ich hätte das Buch vielleicht auch beim ersten Mal gar nicht mehr aus der Hand legen wollen.
Wie lange es dauert, bis ich versinke, bis ich meinen Moment finde, ist abhängig von Buch zu Buch, Benedict Wells' Spinner hat mich auf meinem Arbeitsweg sofort in den Bann gezogen. Da bestand auf einmal die Gefahr, dass der Bann mich nicht mehr loslassen wollte, dass ich fast meine Station verpasste.
Manchmal braucht es also etwas mehr Zeit, um in ein Buch einzutauchen. Die Zeit muss sich nur irgendwie finden lassen, die Zeit muss man sich irgendwie nehmen können. Meine Lösung: seit Ende letzten Jahres sitze ich mit Fremden zusammen in der Stadtbibliothek Hannover und lese, ganz still. Einmal im Monat habe ich einen festen Termin, schaufle mir die Zeit frei, verlege extra meinen Bassunterricht, damit ich auf jeden Fall mindestens eine Stunde ungestört lesen kann, damit ich auf jeden Fall mindestens eine Stunde ungestört lesen werde und so meinen Lesemoment auch erreiche.
Um es noch einmal kurz und bündig zu sagen - 3 Gründe für den Silent Book Club:
ungestörtes Lesen
über Bücher reden mit Menschen, die auf jeden Fall auch über Bücher reden wollen
endlich mal wieder in einem Stuhlkreis sitzen
Plus ein paar Highlights aus den letzten Monaten Lesen, bei denen ich kaum Zeit zum Versinken gebraucht habe, die ich (auch dank SBC) verschlungen habe.
Katharina Peter – Erzählung vom Schweigen
Ich glaube, Katharina Peter hat ihren Debütroman nur für mich geschrieben, sie wusste von meiner Liebe für Absätze, meiner Liebe für Staccato-Sätze, meiner Liebe für ausgeklammerte Sätze. Selbst wenn mir der Inhalt nicht gefallen hätte, wäre es für mich allein für den Schreibstil lesenswert.
Caroline Wahl - 22 Bahnen
Nachdem ich überall (vor allem hier auf Substack) glühende Rezensionen gelesen habe (und das Buch oder die Fortsetzung bei etlichen SBC-Treffen mitgebracht wurde), habe ich mich auch zum Lesen lenken lassen. Und nach den ersten Sätzen war ich überzeugt und mein Lesemoment war so schnell erreicht, dass ich nur ein paar Tage brauchte, um es durchzulesen. Der Hype hatte einfach recht.
Alina Bronsky - Pi Mal Daumen
„Leichtes Lesen“. Pi Mal Daumen habe ich im SBC angefangen und zu Hause musste ich das Buch gleich zu Ende lesen. Für alle, die liebenswerte Charaktere und Mathematik-Studium mögen (trifft glaub’ ich auf alle zu).
Der erste Silent Book Club entstand in San Francisco von zwei Freundinnen, die schon immer gerne zusammen still lesen. Das Ganze artete aus und die Idee fand Anklang weltweit in etlichen Städten und eben auch in etlichen Städten in Deutschland.
Den Silent Book Club gibt es in einer Stadt in meiner Nähe und bestimmt auch in einer Stadt in deiner Nähe.
Falls du Moers lesen willst, fang mit Kapitän Blaubär, Rumo, Die Stadt der träumenden Bücher oder Der Schrecksenmeister an.
John Irving ist einer meiner Lieblingsautoren, viel Spaß mit Owen Meany, ich hoffe du magst es.
Pi Mal Daumen und 22 Bahnen habe ich auch absolut geliebt!